Dezember 2024
Die Begeisterung der Kirchgänger der Leipziger Gemeinden St. Nikolai und St. Thomas dürfte bei den wechselnden Aufführungen der einzelnen Teile des berühmten Weihnachtsoratoriums zwischen dem 1. Weihnachtstag 1734 und dem Epiphaniasfest 1735 gleich groß gewesen sein. Heute gilt die Thomaskirche mit dem Grab Johann Sebastian Bachs als die in aller Welt bekannteste Bachstätte. Mitten im Ersten Weltkrieg, 1916, widmete der deutsch-jüdische Lyriker Ernst Lissauer (1882-1937) der Thomaskirche mit ihrem Bach-Grab ein uns heute eher eigenartig berührendes Gedicht. Da es dem großen Komponisten und seiner Lebensbindung an die Königin der Instrumente jedoch auf so ungewöhnliche Weise ein Denkmal setzt, darf man es wohl alle Jahrhunderte wieder einmal aufleben lassen. Unser Bild zeigt die Thomaskirche in Leipzig. Foto: Dr. Gunhild Schöler.
Literaturlandschaften e.V.
Die Totenwacht
Als Johann Sebastian Bach gestorben war,
Lag er zu Sankt Thomas aufgebahrt am Altar.
Taub ruhten die Hände, die schaffend gejubelt in Lauf und Griff,
Dunkel dämmerte nieder über Kanzel und Schiff,
Rings auf den Leuchtern verlosch der Kerzenschein,
Weit in der Kirchennacht tot lag Bach allein.
Klang
Strich die Wölbung entlang,
Von dumpflaufendem Schalle
Tönte die Halle, –
Zog wer die Züge? Trat wer das Pedal?
Es raunt wie Gespräch, es streift wie Signal.
Und leise, sanft dröhnten die Wände des Baus,
Lösten sich die Pfeifen aus dem Orgelhaus,
Die hölzernen Pfeifen,
Die zinnernen Pfeifen,
Die großen Pfeifen, hoch wie Männerleiber,
Die zarten Pfeifen, anmutig wie Weiber,
Pfeifen, keck wie Knaben, Pfeifen wie Mädchen gelind,
In langer Schar
Die Treppe hinab durch Gang zum Altar,
Kam das Volk der Pfeifen mit Kind und Kindeskind.
Sie umschritten den Sarg, gereiht zwei zu zwei,
Schlürfend glitten sie über die Fliesen,
Die dunklen Bordune bliesen,
Die andern murmelten Litanei.
Quer durch die Schiffe, von Wand hin zu Wand,
Rings um die Bahre nahmen sie Stand.
Die ganze Nacht
Hielten die Pfeifen bei Bachen die Totenwacht.
Ernst Lissauer, 1916.