September 2024

 „… ein artig klein Quartier, wo sich gut arbeiten lasse“, nannte der der junge Familienvater nach dem endgültigen Einzug im Haus am Weimarer Frauenplan die bescheidenen Hinterzimmer zum Garten hin. Sie wurden tatsächlich zur Geburtsstätte einiger der größten Werke der Weltliteratur. Auch am 275. Geburtstag des Bewohners am 28. August 2024 zeigen sich Goethes Arbeits- und Schlafzimmer im Hinterhaus noch immer in dem Zustand, wie der 82-Jährige sie am Mittag des 22. März 1832 verließ. Walter Benjamin hat 1928 das Allerheiligste des Goethehauses auf vielleicht eindrücklichste Weise beschrieben. Unser Bild zeigt die ebenfalls erhaltene Fassade des Hauses, hinter dessen Fenster und Türen jener einzigartige Beitrag zum, nach Thomas Mann, „gelungenen Teil der deutschen Geschichte“ entstand. Foto: Goethehaus am Weimarer Frauenplan, Literaturlandschaften e.V.

Literaturlandschaften e.V.

Man weiß, wie primitiv das Arbeitszimmer Goethes gewesen ist. Es ist niedrig, es hat keinen Teppich, keine Doppelfenster. Die Möbel sind unansehnlich. Leicht hätte er es anders haben können. Lederne Sessel und Polster gab es auch damals. Dies Zimmer ist in nichts seiner Zeit voraus. Ein Wille hat Figur und Formen in Schranken gehalten; keine sollte des Kerzenlichtes sich schämen müssen, bei dem der alte Mann abends im Schlafrock, die Arme auf ein mißfarbenes Kissen gebreitet, am mittleren Tische saß und studierte … Hier hat der Greis mit der Sorge, der Schuld, der Not die ungeheuren Nächte gefeiert, ehe das höllische Frührot des bürgerlichen Komforts zum Fenster hineinschien. Noch warten wir auf eine Philologie, die diese nächste, bestimmendste Umwelt – die wahrhafte Antike des Dichters – vor uns eröffne. Dies Arbeitszimmer war die cella des kleinen Baus, den Goethe zwei Dingen ganz ausschließlich bestimmt hatte: dem Schlaf und der Arbeit. Man kann gar nicht ermessen, was die Nachbarschaft der winzigen Schlafkammer und dieses einem Schlafgemache gleich abgeschiedenen Arbeitszimmers bedeutet hat. Nur die Schwelle trennte, gleich einer Stufe, bei der Arbeit ihn von dem thronenden Bett. Und schlief er, so wartete daneben sein Werk, um ihn allnächtlich von den Toten loszubitten. Wem ein glücklicher Zufall erlaubt, in diesem Raume sich zu sammeln, erfährt in der Anordnung der vier Stuben, in denen Goethe schlief, las, diktierte und schrieb, die Kräfte, die eine Welt ihm Antwort geben hießen, wenn er das Innerste anschlug. Wir aber müssen eine Welt zum Tönen bringen, um den schwachen Oberton eines Innern erklingen zu lassen.

Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Band IV, Frankfurt 1972, S. 354 f.